2003-04-25 - 10:56 - Zwei Stunden Weihrauch und Chor�le

Auf keinen Fall sollte man bei einer Ru�landreise einen Besuch in einem orthodoxen Gottesdienst vers�umen. Wenn man sich vorher erkundigt, wo die besten Ch�re singen, ist es unter Garantie zumindest ein audiovisuell beeindruckendes Erlebnis - auch wenn man, wie ich, zwei Stunden lang keine Ahnung hat, was genau nun gerade vor sich geht.

Aber wahrscheinlich macht gerade das auch einen Teil der ungeheuren Faszination aus. Die ganze Prozedur wirkt sehr erhaben und weihevoll, bleibt aber stets ein Mysterium f�r den Au�enstehenden, weil dieser kein Wort versteht und nicht mal ansatzweise mit dem Ablauf vertraut ist.

So bleibt einem ahnungslosen Besucher gar nichts anderes �brig, als staunend den goldenen Prunk zu bewundern, das geheimnisvolle Kommen und Gehen der Priester zu beobachten, sich von immer neuen Weihrauchwolken umnebeln und von sakralen Chor�len langsam in andere Welten entf�hren zu lassen.

Man sollte aber auf jeden Fall eine ausgepr�gte kulturelle Entdeckerfreude, einen gesunden Kreislauf und eine gewisse Standfestigkeit mitbringen. So eine orthodoxe Zeremonie kann auch au�erhalb hoher Feiertage gut und gerne zwei Stunden dauern. Zwei Stunden, die man ununterbrochen stehend verbringen mu�, weil so etwas wie Kirchenb�nke vorsichtshalber gar nicht erst aufgestellt wurden - zu Marcs gro�er Entt�uschung, der auf gut gepolsterte B�nke als Begleitung zur musikalischen Einlullung gehofft hatte.

Und es ist hilfreich, wenn man zwei Stunden lang seine etwaige Religionsphobie im Zaum halten und sich die harsche Sozialkritik f�r sp�ter aufheben kann. Die d�rfte sich angesichts des Kontrasts von prunkvoller Ausstattung sowohl der Kirche als auch ihrer Diener und der oft �rmlichen Aufmachung der Gottesdienstbesucher unweigerlich einstellen.

Beiden Parteien gemeinsam ist �brigens ein st�ndiges Kommen und Gehen. Anders als in unseren Gefilden scheinen die Besucher dort je nach Lust, Laune und Zeitkontingent erscheinen und auch wieder verschwinden zu d�rfen, was unweigerlich eine gewisse Unruhe mit sich bringt. Die wird noch verst�rkt dadurch, da� auch die Priester, von denen insgesamt 14 plus vier Ministranten an der Zeremonie beteiligt waren, immer wieder mal wieder in der Kirche erscheinen, verschiedene Dinge tun und sich dann wieder in private R�umlichkeiten zur�ckziehen.

Sehr verwirrend f�r g�nzlich Uneingeweihte wie mich ist auch, da� die Beleuchtung h�ufiger wechselt. Mal ist die Kirche hell erleuchtet, dann wieder kann man seinen Nebenmann nur noch im Schein der Kerzen betrachten. Passend dazu wird jeweils Einblick in den Altarraum und die Vorg�nge dort gewehrt oder aber wieder verwehrt.

Das geschieht mittels der bereits gestern erw�hnten Ikonostase. Dabei handelt es sich um eine meist goldene und reichverzierte zweifl�gelige T�r, die den Gemeinde- vom Altarraum und somit auch symbolisch die materielle von der geistigen Welt trennt. Die darauf befindlichen Ikonen sind in vier, f�nf oder sechs Reihen angeordnet, die alle eine bestimmte Bedeutung haben und z.B. die Hauptfeste der orthodoxen Kirche oder aber den jeweiligen Kirchenpatron zeigen.

Den eigentlichen Altarraum d�rfen nat�rlich nur die Priester betreten. Aber zwischendurch kommen sie, in wechselnder Besetzung und mit schweren Brokat-Kutten beh�ngt, immer wieder in den Gemeindebereich der Kirche, um dort zu beten und noch mehr Weihrauch zu verteilen. Dazu wird eine schwere Bibel hin- und hergetragen und gek��t. Und immer wieder diese wundervollen Chor�le, die mich sofort die schweren Beine vergessen lassen (inzwischen verstehe ich auch, warum viele Besucher langsam durch die Kirche gehen und hier und da vor besonderen Ikonen Kerzen anz�nden, es erleichtert das lange Stehen ungemein).

Schlie�lich taucht noch ein besonders alter Priester mit einer Art Krone auf, f�r den extra ein roter Teppich ausgerollt wird. Mein Englisch radebrechender Stehnachbar informiert mich, da� uns hier das Oberhaupt der orthodoxen Gemeinde von St. Petersburg die Ehre gibt. Endlich sind auch einmal alle 14 Priester nebst ihrer vier Gehilfen gemeinsam in der Kirche versammelt - ein beeindruckender Anblick.

Auf ein Zeichen hin, das mir nat�rlich entgeht, teilt sich die Menge der Besucher und stellt sich ordentlich in einer langen Reihe auf, die sich schlie�lich um die einzelnen S�ulen des gro�en Raumes windet. Einer nach dem anderen tritt vor das Oberhaupt, murmelt etwas und bekommt daf�r von ihm mit Weihwasser ein Kreuz auf die Stirn gepinselt. Danach darf man den Ring des ehrw�rdigen Mannes k�ssen. Eine Prozedur, die angesichts der Besuchermassen viel Zeit in Anspruch nimmt und mir als momentan nicht spirituell Verz�ckter ein wenig unhygienisch erscheint.

Anschlie�end wird die offizielle Besetzung wieder reduziert, der Teppich eingerollt und der stete Wechsel von beten, Licht dimmen, Weihrauch inhalieren und Ges�ngen lauschen wieder aufgegriffen. Ich bin von den entr�ckten Gesichtern und der tiefen Fr�mmigkeit vieler Besucher beeindruckt und zugleich besch�mt dar�ber, da� ich so wenig Ahnung von den Inhalten und Ritualen orthodoxen Glaubens habe.

Zumindest letzteres wird jetzt durch Lekt�re ge�ndert. An dem inneren Zwiespalt, der sich bei einem solchen Besuch einstellt, wird aber auch das wohl nichts �ndern k�nnen. Ich kann mich weder den Ikonen und Ges�ngen ganz entziehen, noch kann ich die kritischen Stimmen in meinem Kopf f�r zwei Stunden einfach ausschalten.

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Zwei Stunden Weihrauch und Chor�le 2003-04-25 10:56 Auf keinen Fall sollte man bei einer Ru�landreise einen Besuch in einem orthodoxen Gottesdienst vers�umen. Wenn man sich vorher erkundigt, wo die besten Ch�re singen, ist es unter Garantie zumindest ein audiovisuell beeindruckendes Erlebnis - auch wenn man, wie ich, zwei Stunden lang keine Ahnung hat, was genau nun gerade vor sich geht.

Aber wahrscheinlich macht gerade das auch einen Teil der ungeheuren Faszination aus. Die ganze Prozedur wirkt sehr erhaben und weihevoll, bleibt aber stets ein Mysterium f�r den Au�enstehenden, weil dieser kein Wort versteht und nicht mal ansatzweise mit dem Ablauf vertraut ist.

So bleibt einem ahnungslosen Besucher gar nichts anderes �brig, als staunend den goldenen Prunk zu bewundern, das geheimnisvolle Kommen und Gehen der Priester zu beobachten, sich von immer neuen Weihrauchwolken umnebeln und von sakralen Chor�len langsam in andere Welten entf�hren zu lassen.

Man sollte aber auf jeden Fall eine ausgepr�gte kulturelle Entdeckerfreude, einen gesunden Kreislauf und eine gewisse Standfestigkeit mitbringen. So eine orthodoxe Zeremonie kann auch au�erhalb hoher Feiertage gut und gerne zwei Stunden dauern. Zwei Stunden, die man ununterbrochen stehend verbringen mu�, weil so etwas wie Kirchenb�nke vorsichtshalber gar nicht erst aufgestellt wurden - zu Marcs gro�er Entt�uschung, der auf gut gepolsterte B�nke als Begleitung zur musikalischen Einlullung gehofft hatte.

Und es ist hilfreich, wenn man zwei Stunden lang seine etwaige Religionsphobie im Zaum halten und sich die harsche Sozialkritik f�r sp�ter aufheben kann. Die d�rfte sich angesichts des Kontrasts von prunkvoller Ausstattung sowohl der Kirche als auch ihrer Diener und der oft �rmlichen Aufmachung der Gottesdienstbesucher unweigerlich einstellen.

Beiden Parteien gemeinsam ist �brigens ein st�ndiges Kommen und Gehen. Anders als in unseren Gefilden scheinen die Besucher dort je nach Lust, Laune und Zeitkontingent erscheinen und auch wieder verschwinden zu d�rfen, was unweigerlich eine gewisse Unruhe mit sich bringt. Die wird noch verst�rkt dadurch, da� auch die Priester, von denen insgesamt 14 plus vier Ministranten an der Zeremonie beteiligt waren, immer wieder mal wieder in der Kirche erscheinen, verschiedene Dinge tun und sich dann wieder in private R�umlichkeiten zur�ckziehen.

Sehr verwirrend f�r g�nzlich Uneingeweihte wie mich ist auch, da� die Beleuchtung h�ufiger wechselt. Mal ist die Kirche hell erleuchtet, dann wieder kann man seinen Nebenmann nur noch im Schein der Kerzen betrachten. Passend dazu wird jeweils Einblick in den Altarraum und die Vorg�nge dort gewehrt oder aber wieder verwehrt.

Das geschieht mittels der bereits gestern erw�hnten Ikonostase. Dabei handelt es sich um eine meist goldene und reichverzierte zweifl�gelige T�r, die den Gemeinde- vom Altarraum und somit auch symbolisch die materielle von der geistigen Welt trennt. Die darauf befindlichen Ikonen sind in vier, f�nf oder sechs Reihen angeordnet, die alle eine bestimmte Bedeutung haben und z.B. die Hauptfeste der orthodoxen Kirche oder aber den jeweiligen Kirchenpatron zeigen.

Den eigentlichen Altarraum d�rfen nat�rlich nur die Priester betreten. Aber zwischendurch kommen sie, in wechselnder Besetzung und mit schweren Brokat-Kutten beh�ngt, immer wieder in den Gemeindebereich der Kirche, um dort zu beten und noch mehr Weihrauch zu verteilen. Dazu wird eine schwere Bibel hin- und hergetragen und gek��t. Und immer wieder diese wundervollen Chor�le, die mich sofort die schweren Beine vergessen lassen (inzwischen verstehe ich auch, warum viele Besucher langsam durch die Kirche gehen und hier und da vor besonderen Ikonen Kerzen anz�nden, es erleichtert das lange Stehen ungemein).

Schlie�lich taucht noch ein besonders alter Priester mit einer Art Krone auf, f�r den extra ein roter Teppich ausgerollt wird. Mein Englisch radebrechender Stehnachbar informiert mich, da� uns hier das Oberhaupt der orthodoxen Gemeinde von St. Petersburg die Ehre gibt. Endlich sind auch einmal alle 14 Priester nebst ihrer vier Gehilfen gemeinsam in der Kirche versammelt - ein beeindruckender Anblick.

Auf ein Zeichen hin, das mir nat�rlich entgeht, teilt sich die Menge der Besucher und stellt sich ordentlich in einer langen Reihe auf, die sich schlie�lich um die einzelnen S�ulen des gro�en Raumes windet. Einer nach dem anderen tritt vor das Oberhaupt, murmelt etwas und bekommt daf�r von ihm mit Weihwasser ein Kreuz auf die Stirn gepinselt. Danach darf man den Ring des ehrw�rdigen Mannes k�ssen. Eine Prozedur, die angesichts der Besuchermassen viel Zeit in Anspruch nimmt und mir als momentan nicht spirituell Verz�ckter ein wenig unhygienisch erscheint.

Anschlie�end wird die offizielle Besetzung wieder reduziert, der Teppich eingerollt und der stete Wechsel von beten, Licht dimmen, Weihrauch inhalieren und Ges�ngen lauschen wieder aufgegriffen. Ich bin von den entr�ckten Gesichtern und der tiefen Fr�mmigkeit vieler Besucher beeindruckt und zugleich besch�mt dar�ber, da� ich so wenig Ahnung von den Inhalten und Ritualen orthodoxen Glaubens habe.

Zumindest letzteres wird jetzt durch Lekt�re ge�ndert. An dem inneren Zwiespalt, der sich bei einem solchen Besuch einstellt, wird aber auch das wohl nichts �ndern k�nnen. Ich kann mich weder den Ikonen und Ges�ngen ganz entziehen, noch kann ich die kritischen Stimmen in meinem Kopf f�r zwei Stunden einfach ausschalten.