2003-06-20 - 22:41 - Die Sozialstaatsspionin

Warum habe ich blo� so eine Anziehungskraft auf offensichtlich Irre? Was finden die an mir? Sonst mu� ich mir h�ufiger mal anh�ren, ich w�rde zun�chst sehr distanziert, fast schon abweisend wirken, und es soll Menschen geben, die sich nicht trauen mich anzusprechen. Letzteres trifft auf Hamburgs Irre definitiv nicht zu.

Wenn ich in einer Menschenmenge stehe und auf den Bus warte, oder in einem bereits ziemlich vollen Bus sitze, dann entdeckt mich der jeweils anwesende Irre binnen weniger Sekunden und steuert mit ungeheurer Entschlossenheit auf mich zu. Resistance is futile.

Heute morgen erwischte mich eine Frau, etwa Anfang vierzig, die auf den ersten Blick eher harmlos-bieder wirkte. Sie stellte sich an der Bushaltestelle neben mich, nestelte ein wenig an ihrer roten Bl�mchenbluse herum und fragte mich nach einer Stra�e.

Eine Antwort hatte sie wohl nicht erwartet, denn sie redete sofort weiter, nachdem sie kurz ihren Blick in alle Richtungen hatte schweifen lassen. Sie w�rde sich in besagter Stra�e n�mlich gleich eine Wohnung mit ihrer Betreuerin (ok, here we go) ansehen, die ihr "der Staat" vermittelt habe. Die Wohnung wollte sie zwar gar nicht haben, aber sich doch zumindest mal ansehen, in was f�r L�cher unser Staat Menschen steckt, die von ihm abh�ngig sind.

Dann senkte sie ihre Stimme, bis sie fast fl�sterte, wobei sie immer m�glichst unbeteiligt geradeaus schaute, und mir eigentlich mehr aus dem Mundwinkel Dinge zuraunte, statt direkt mit mir zu reden. Ignorieren konnte ich sie trotzdem nicht. Auch als ich endlich in den Bus einsteigen konnte, folgte sie mir, lie� sich auf dem Sitz hinter mir nieder und fl�sterte mir von dort weiter ihre Geschichte ins Ohr.

Sie sei n�mlich gar nicht verr�ckt (!), obwohl das einige von ihr glaubten. Sie sei vielmehr die Tochter eines sehr wohlhabenden und einflu�reichen Gesch�ftsmannes aus S�damerika, wo sie auch aufgewachsen sei. Jetzt w�rde sie hier in Deutschland leben, so tun als sei sie verr�ckt, um ungest�rt unser Sozialsystem ausspionieren zu k�nnen.

Die dabei aufgedeckten M�ngel und himmelschreienden Ungerechtigkeiten (wie z.B. die Tatsache, da� man sie in ein kleines Loch zu stecken gedenke) werde sie dann in einem Buch der staunenden �ffentlichkeit pr�sentieren. In mehreren Sprachen ver�ffentlicht, versteht sich, damit alle Welt davon erf�hrt.

(Ob ich genauso unzurechnungsf�hig wirke, wenn ich mal laut dar�ber nachdenke, vielleicht eines Tages ein Buch zu schreiben? Ihr w�rdet mir das doch sagen, oder?)

Ich war froh, als ich endlich aussteigen konnte, auch wenn ein kleiner, perfider Teil in mir gern noch mehr Details geh�rt h�tte. Doch zu meiner gro�en �berraschung stieg die s�damerikanische Blumenblusenfrau mit mir aus. Als ich sie vorsichtig darauf hinwies, da� ihre Stra�e aber noch einige Haltestellen weiter sei, zuckte sie nur mit den Schultern und sagte ganz nonchalant: "Egal, dann guck ich mir halt deine Wohnung an."

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Die Sozialstaatsspionin 2003-06-20 22:41 Warum habe ich blo� so eine Anziehungskraft auf offensichtlich Irre? Was finden die an mir? Sonst mu� ich mir h�ufiger mal anh�ren, ich w�rde zun�chst sehr distanziert, fast schon abweisend wirken, und es soll Menschen geben, die sich nicht trauen mich anzusprechen. Letzteres trifft auf Hamburgs Irre definitiv nicht zu.

Wenn ich in einer Menschenmenge stehe und auf den Bus warte, oder in einem bereits ziemlich vollen Bus sitze, dann entdeckt mich der jeweils anwesende Irre binnen weniger Sekunden und steuert mit ungeheurer Entschlossenheit auf mich zu. Resistance is futile.

Heute morgen erwischte mich eine Frau, etwa Anfang vierzig, die auf den ersten Blick eher harmlos-bieder wirkte. Sie stellte sich an der Bushaltestelle neben mich, nestelte ein wenig an ihrer roten Bl�mchenbluse herum und fragte mich nach einer Stra�e.

Eine Antwort hatte sie wohl nicht erwartet, denn sie redete sofort weiter, nachdem sie kurz ihren Blick in alle Richtungen hatte schweifen lassen. Sie w�rde sich in besagter Stra�e n�mlich gleich eine Wohnung mit ihrer Betreuerin (ok, here we go) ansehen, die ihr "der Staat" vermittelt habe. Die Wohnung wollte sie zwar gar nicht haben, aber sich doch zumindest mal ansehen, in was f�r L�cher unser Staat Menschen steckt, die von ihm abh�ngig sind.

Dann senkte sie ihre Stimme, bis sie fast fl�sterte, wobei sie immer m�glichst unbeteiligt geradeaus schaute, und mir eigentlich mehr aus dem Mundwinkel Dinge zuraunte, statt direkt mit mir zu reden. Ignorieren konnte ich sie trotzdem nicht. Auch als ich endlich in den Bus einsteigen konnte, folgte sie mir, lie� sich auf dem Sitz hinter mir nieder und fl�sterte mir von dort weiter ihre Geschichte ins Ohr.

Sie sei n�mlich gar nicht verr�ckt (!), obwohl das einige von ihr glaubten. Sie sei vielmehr die Tochter eines sehr wohlhabenden und einflu�reichen Gesch�ftsmannes aus S�damerika, wo sie auch aufgewachsen sei. Jetzt w�rde sie hier in Deutschland leben, so tun als sei sie verr�ckt, um ungest�rt unser Sozialsystem ausspionieren zu k�nnen.

Die dabei aufgedeckten M�ngel und himmelschreienden Ungerechtigkeiten (wie z.B. die Tatsache, da� man sie in ein kleines Loch zu stecken gedenke) werde sie dann in einem Buch der staunenden �ffentlichkeit pr�sentieren. In mehreren Sprachen ver�ffentlicht, versteht sich, damit alle Welt davon erf�hrt.

(Ob ich genauso unzurechnungsf�hig wirke, wenn ich mal laut dar�ber nachdenke, vielleicht eines Tages ein Buch zu schreiben? Ihr w�rdet mir das doch sagen, oder?)

Ich war froh, als ich endlich aussteigen konnte, auch wenn ein kleiner, perfider Teil in mir gern noch mehr Details geh�rt h�tte. Doch zu meiner gro�en �berraschung stieg die s�damerikanische Blumenblusenfrau mit mir aus. Als ich sie vorsichtig darauf hinwies, da� ihre Stra�e aber noch einige Haltestellen weiter sei, zuckte sie nur mit den Schultern und sagte ganz nonchalant: "Egal, dann guck ich mir halt deine Wohnung an."